Freitag, 29. April 2016

DIE KINDER VON HAMELN



Die Kinder von Hameln

Es geschah im Jahr 1284. Ein Mann von wunderlichem Aussehen und bunter Tracht kam in die Stadt Hameln. Er war ein Rattenfänger und versprach, gegen ein gewisses Geld die ganze Stadt von Ratten und Mäusen zu befreien. Das wurde ihm von einem hohen Rate und der Bürgerschaft zugesichert. Daraufhin zog der Mann ein Pfeifchen hervor, ging durch die Gassen und pfiff, wie es heutzutage in manchen Städten Hirten und Nachtwächter tun, weil das Blasen auf einem Kuhhorn nicht städtisch genug klingt. Und siehe, da kamen die Ratten und Mäuse aus allen Häusern gesprungen und liefen in Scharen hinter ihm drein, wie vordessen hinter dem Bischof Hatto von Mainz.
Da der Rattenpfeifer durch alle Gassen gegangen war, wandelte er mit seinem grauen Gefolge durch das Wesertor hinaus, dem Fluss zu. Er hob sein Gewand, ging in das Wasser, Ratten und Mäuse folgten ihm blindlings und ersoffen wie Pharaos Heer im Roten Meer. Nun waren aber die Bürger zu Hameln in damaliger Zeit so erschrecklich klug, wie viele Menschen noch heutzutage nicht nur zu Hameln, sondern überall. Sie legten den Maßstab des Lohns nicht an die Kunst und Wissenschaft, falls die einer hatte, sondern an die Arbeit und Plage, die einer hat, um etwas zu vollbringen. Sie sprachen unter sich: „Es ist doch ein sündhaftes Geld, was dieser Rattenfänger sich für so gar keine Mühe ausbedungen hat. Ja, hätte er Fallen gestellt und in jedem Haus Gift gelegt, da ließe sich seine Forderung hören – aber so? Und ist es nicht von Übel, dass er das Ungeziefer in die Weser gelockt hat, wo es nun die Fische fressen? Da mag nun ein anderer Weserfische essen, wir danken dafür. Und – wie hat er es überhaupt vollbracht? Mit einem Satanskunststück! Vielleicht ist es gar nur ein Blendwerk; wenn er das Geld hat und fort ist, haben wir dann die Ratten wieder. Wir werden ihm nur den halben Lohn geben. Wenn ihm das nicht recht ist, werden wir ihn als einen Zauberer in den Turm werfen und abwarten, ob die Ratten und Mäuse wiederkommen.“
So redeten zuerst nur unter sich die Vorsichtigen und Weisen, aber auch höchst sparsame Bürger und Rastherren zu Hameln. Sie trugen ihre Bedenken dem Rattenfänger vor, boten ihm das halbe Geld und drohten mit dem Turm. Da nahm der Künstler das Geld und ging im Zorn.
Darauf geschah, dass am Tage Johannis und Pauli, der beiden heiligen Märtyrer, am 26. Tag des Heumondes, während die Leute in der Kirche waren, derselbe Rattenfänger in den Straßen zu Hameln gesehen wurde. Dieses Mal in der Tracht eines Jägers, mit schrecklichem Gesicht, mit einem roten, wunderlichen Hut und pfiff durch alle Gassen. Es kamen aber keine Ratten und Mäuse aus den Häusern, denn die blieben vertrieben und aufgerieben. Wohl aber kamen die Kinder, Knaben und Mädchen vom vierten Jahr an und liefen dem Rattenfänger nach, auch eine schon ziemlich große Tochter des Bürgermeisters, der am meisten den Künstler bedrängt hatte. Die Kinder folgten ihm mit sichtlich großer Freude, führten sich an den Händen und hatten große Lust. Selbst ein blinder und ein stummer Knabe gingen als die Letzten mit im Zuge. Der Stumme führte den Blinden und hinterdrein kam auch noch eine Kindsmagd, die ein Kind im Mantel trug – sie wollte sehen, wo es hingehen sollte. Der Schwarm zog, den Jäger an der Spitze, die schmale Gasse zum Ostertor hinauf und dann raus nach dem Koppelberg zu. Der tat sich auf, der Pfeifer ging voran, die Kinder folgten, nur der stumme Knabe, der den Blinden führte, blieb draußen, weil der Blinde nicht so schnell rennen konnte, denn knapp vor ihnen tat sich der Berg mit einem Mal wieder zu. Da drehte sich die Kindsmagd auch um und brach in großes Geschrei aus, dass die Kinder in den Koppelberg geführt worden seien. Welch großer Schrecken! Die Kirche wurde geschlossen, die Eltern eilten voller Angst zum Berge, kaum fanden sie noch eine schmale Schlucht als Wahrzeichen.
130 Kinder verschwanden auf diese Weise. Nie mehr kamen sie wieder und es war in der ganzen Stadt ein herzzerreißendes Jammern und Wehklagen und aufs Neue wurde schmerzlich offenbar, dass blödsinniger Geiz und torheitsvolle Sparsucht die Wurzeln allen Übels sind.
Lange, lange trauerte Hameln um seine verlorenen Kinder; zwei steinerne Grabkreuze wurden ihnen an der Stelle geweiht, an der der Berg sind hinter den Kindern geschlossen hatte. Eins war für die Knaben und eins für die Mädchen.
In der Straße, durch die der Zug zuletzt gegangen war, durfte nie wieder Trommelschall und Musikgetöne lautbar werden, selbst die Musik der Brautzüge musste in ihr verstummen, deshalb wird sie auch bis heute Bungen(Trommel)-Straße genannt, weil in ihr nicht getrommelt werden darf.
Der Unglückstag blieb schwarz angestrichen in Hamelns Annalen; das Rathaus verewigte sein Andenken in einer Steinschrift:
Im jar 1284 nach Christi gebort
Tho Hamel worden uthgevort
Hundert und driezig kinder dosülvest geboren
Dorch enen Piper unter den köppen verloren.

An der neuen Pforte wurde die Kunde lateinisch in Stein geschrieben. Im Jahre 1572 ließ der damalige Bürgermeister die Wundermär in der Glasmalerei der Kirchenfenster bildlich erneuern, die, unsterblich geworden, immer weiter fortlebte.
Noch geht die Sage, dass die Kinder von Hameln unter der Erde nach Siebenbürgen geführt worden seien, wo sie wieder ans Tageslicht gekommen seien und dort, nachdem sie erwachsen, den sächsisch-deutschen Volksstamm gegründet hätten. Den grausamen Rattenfänger und Teufelspfeifer, den hat niemand je wieder gesehen, aber nach ihm haben alle Ratten- und Mäusefänger des Heiligen Römischen Reichs Jägertracht angelegt und sich fortan Kammerjäger genannt, wie es Kammerknechte, Kammerboten und andere Kammerbetitelte gab und noch gibt.

Der Rattenfänger von Hameln ist eine der bekanntesten deutschen Sagen und wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Man sagt, dass über eine Milliarde Menschen sie kennen. Im Ausland gehört sie oft zur Ergänzung des Schulunterrichts; besonders in Japan und in den USA ist die Sage sehr beliebt.

Ursprünglich handelt es sich um zwei selbstständige Sagen. Die ursprüngliche Kinderauszugssage wurde wohl erst Ende des 16. Jahrhunderts mit einer Rattenvertreibungssage verbunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Sagenteile einen historischen Kern haben, ist unterschiedlich groß. In den mittelalterlichen Ratsbüchern der Stadt Hameln ist zum Beispiel nirgends nachweisbar, dass die Stadt einem Rattenfänger Lohn versprochen oder ausbezahlt hätte.
Die Kinder von Hameln

Es geschah im Jahr 1284. Ein Mann von wunderlichem Aussehen und bunter Tracht kam in die Stadt Hameln. Er war ein Rattenfänger und versprach, gegen ein gewisses Geld die ganze Stadt von Ratten und Mäusen zu befreien. Das wurde ihm von einem hohen Rate und der Bürgerschaft zugesichert. Daraufhin zog der Mann ein Pfeifchen hervor, ging durch die Gassen und pfiff, wie es heutzutage in manchen Städten Hirten und Nachtwächter tun, weil das Blasen auf einem Kuhhorn nicht städtisch genug klingt. Und siehe, da kamen die Ratten und Mäuse aus allen Häusern gesprungen und liefen in Scharen hinter ihm drein, wie vordessen hinter dem Bischof Hatto von Mainz.
Da der Rattenpfeifer durch alle Gassen gegangen war, wandelte er mit seinem grauen Gefolge durch das Wesertor hinaus, dem Fluss zu. Er hob sein Gewand, ging in das Wasser, Ratten und Mäuse folgten ihm blindlings und ersoffen wie Pharaos Heer im Roten Meer. Nun waren aber die Bürger zu Hameln in damaliger Zeit so erschrecklich klug, wie viele Menschen noch heutzutage nicht nur zu Hameln, sondern überall. Sie legten den Maßstab des Lohns nicht an die Kunst und Wissenschaft, falls die einer hatte, sondern an die Arbeit und Plage, die einer hat, um etwas zu vollbringen. Sie sprachen unter sich: „Es ist doch ein sündhaftes Geld, was dieser Rattenfänger sich für so gar keine Mühe ausbedungen hat. Ja, hätte er Fallen gestellt und in jedem Haus Gift gelegt, da ließe sich seine Forderung hören – aber so? Und ist es nicht von Übel, dass er das Ungeziefer in die Weser gelockt hat, wo es nun die Fische fressen? Da mag nun ein anderer Weserfische essen, wir danken dafür. Und – wie hat er es überhaupt vollbracht? Mit einem Satanskunststück! Vielleicht ist es gar nur ein Blendwerk; wenn er das Geld hat und fort ist, haben wir dann die Ratten wieder. Wir werden ihm nur den halben Lohn geben. Wenn ihm das nicht recht ist, werden wir ihn als einen Zauberer in den Turm werfen und abwarten, ob die Ratten und Mäuse wiederkommen.“
So redeten zuerst nur unter sich die Vorsichtigen und Weisen, aber auch höchst sparsame Bürger und Rastherren zu Hameln. Sie trugen ihre Bedenken dem Rattenfänger vor, boten ihm das halbe Geld und drohten mit dem Turm. Da nahm der Künstler das Geld und ging im Zorn.
Darauf geschah, dass am Tage Johannis und Pauli, der beiden heiligen Märtyrer, am 26. Tag des Heumondes, während die Leute in der Kirche waren, derselbe Rattenfänger in den Straßen zu Hameln gesehen wurde. Dieses Mal in der Tracht eines Jägers, mit schrecklichem Gesicht, mit einem roten, wunderlichen Hut und pfiff durch alle Gassen. Es kamen aber keine Ratten und Mäuse aus den Häusern, denn die blieben vertrieben und aufgerieben. Wohl aber kamen die Kinder, Knaben und Mädchen vom vierten Jahr an und liefen dem Rattenfänger nach, auch eine schon ziemlich große Tochter des Bürgermeisters, der am meisten den Künstler bedrängt hatte. Die Kinder folgten ihm mit sichtlich großer Freude, führten sich an den Händen und hatten große Lust. Selbst ein blinder und ein stummer Knabe gingen als die Letzten mit im Zuge. Der Stumme führte den Blinden und hinterdrein kam auch noch eine Kindsmagd, die ein Kind im Mantel trug – sie wollte sehen, wo es hingehen sollte. Der Schwarm zog, den Jäger an der Spitze, die schmale Gasse zum Ostertor hinauf und dann raus nach dem Koppelberg zu. Der tat sich auf, der Pfeifer ging voran, die Kinder folgten, nur der stumme Knabe, der den Blinden führte, blieb draußen, weil der Blinde nicht so schnell rennen konnte, denn knapp vor ihnen tat sich der Berg mit einem Mal wieder zu. Da drehte sich die Kindsmagd auch um und brach in großes Geschrei aus, dass die Kinder in den Koppelberg geführt worden seien. Welch großer Schrecken! Die Kirche wurde geschlossen, die Eltern eilten voller Angst zum Berge, kaum fanden sie noch eine schmale Schlucht als Wahrzeichen.
130 Kinder verschwanden auf diese Weise. Nie mehr kamen sie wieder und es war in der ganzen Stadt ein herzzerreißendes Jammern und Wehklagen und aufs Neue wurde schmerzlich offenbar, dass blödsinniger Geiz und torheitsvolle Sparsucht die Wurzeln allen Übels sind.
Lange, lange trauerte Hameln um seine verlorenen Kinder; zwei steinerne Grabkreuze wurden ihnen an der Stelle geweiht, an der der Berg sind hinter den Kindern geschlossen hatte. Eins war für die Knaben und eins für die Mädchen.
In der Straße, durch die der Zug zuletzt gegangen war, durfte nie wieder Trommelschall und Musikgetöne lautbar werden, selbst die Musik der Brautzüge musste in ihr verstummen, deshalb wird sie auch bis heute Bungen(Trommel)-Straße genannt, weil in ihr nicht getrommelt werden darf.
Der Unglückstag blieb schwarz angestrichen in Hamelns Annalen; das Rathaus verewigte sein Andenken in einer Steinschrift:
Im jar 1284 nach Christi gebort
Tho Hamel worden uthgevort
Hundert und driezig kinder dosülvest geboren
Dorch enen Piper unter den köppen verloren.

An der neuen Pforte wurde die Kunde lateinisch in Stein geschrieben. Im Jahre 1572 ließ der damalige Bürgermeister die Wundermär in der Glasmalerei der Kirchenfenster bildlich erneuern, die, unsterblich geworden, immer weiter fortlebte.
Noch geht die Sage, dass die Kinder von Hameln unter der Erde nach Siebenbürgen geführt worden seien, wo sie wieder ans Tageslicht gekommen seien und dort, nachdem sie erwachsen, den sächsisch-deutschen Volksstamm gegründet hätten. Den grausamen Rattenfänger und Teufelspfeifer, den hat niemand je wieder gesehen, aber nach ihm haben alle Ratten- und Mäusefänger des Heiligen Römischen Reichs Jägertracht angelegt und sich fortan Kammerjäger genannt, wie es Kammerknechte, Kammerboten und andere Kammerbetitelte gab und noch gibt.

Der Rattenfänger von Hameln ist eine der bekanntesten deutschen Sagen und wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Man sagt, dass über eine Milliarde Menschen sie kennen. Im Ausland gehört sie oft zur Ergänzung des Schulunterrichts; besonders in Japan und in den USA ist die Sage sehr beliebt.

Ursprünglich handelt es sich um zwei selbstständige Sagen. Die ursprüngliche Kinderauszugssage wurde wohl erst Ende des 16. Jahrhunderts mit einer Rattenvertreibungssage verbunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Sagenteile einen historischen Kern haben, ist unterschiedlich groß. In den mittelalterlichen Ratsbüchern der Stadt Hameln ist zum Beispiel nirgends nachweisbar, dass die Stadt einem Rattenfänger Lohn versprochen oder ausbezahlt hätte.

Quelle: Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853
©neu erzählt von Monika Detering

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